Auslandsbericht I – Berge, Meere, Menschen: ein Überblick
Zwei Monate, bevor mein Flug nach Kapstadt ging saß ich in einem anderen Flugzeug. Aus diesem Flugzeug bin ich gesprungen und obwohl ein Fallschirmsprung eine gute Metapher für den Start eines Auslandsjahres ist, sind die Gefühle, die man hat, während man in der Chessner mit Rollluke sitzt, harmlos im Vergleich zu dieser gewissen Panik, die einen in der Emirates Boing 777, auf dem Weg zu der Stadt, in der man nun ein Jahr lang leben wird, unweigerlich überkommt.
Da wir uns hier in einer Gastfamilie ein Zimmer teilen war eigentlich geplant, dass mein Mitfreiwilliger, Christopher, und ich gemeinsam fliegen. Da die südafrikanische Botschaft jedoch die Regularien für das Visum recht willkürlich und mehr oder minder paranoid verschärft hatte, musste Christopher den Flug, zwei Wochen später nehmen.
Das Ziel: Kapstadt. Mit Johannesburg und Durban die wohl bekannteste Stadt Südafrikas und eines der kulturellen Zentren des Landes. Die Stadt beherbergt nahezu alle Kulturkreise des Landes, Berge und Meere, die Erste und die Dritte Welt, dreckige Hütten und herausgeputzte viktorianische Bauten. Im Cape Town Stadium fanden etliche Spiele der Fußballweltmeisterschaft 2010 statt.
Mit ca. 51.000.000 Einwohnern hat Südafrika zwar ungefähr 30.000.000 weniger, als Deutschland, dafür aber eine fast viermal so große Fläche, wie die Bundesrepublik. Derzeit ist hier ausgehender Winter, der sich jedoch weniger durch die Temperaturen tagsüber, die im sehr angenehmen Bereich liegen, sondern eher durch die Regengüsse und die Nachttemperaturen bemerkbar macht.
Neben der Weltmeisterschaft 2010 ist das Land vor allem für die Zeit der Apartheid und für seine Nobelpreisträger, hauptsächlich den kürzlich verstorbenen Ex-Präsidenten Nelson Mandela, dessen Antlitz die vielen Randscheine ziert und den anglikanischen Erzbischof Desmond Tutu, bekannt. In der westlichen Presse wurde Nelson Mandela oft als tanzender Präsident tituliert; Desmond Tutu geht noch einen Schritt weiter: er ist ein tanzender Erzbischof.
Tatsächlich sind viele Dinge im Kontext der Apartheid zu sehen. So gibt es Viertel, die ausschließlich von Schwarzen, solche die ausschließlich von Weißen und solche, die ausschließlich von Coloureds bewohnt werden. Auch ist es krass, wie sehr sozialer Status und auch sozialer Habitus noch mit der Ethnie, der man angehört korreliert (z.B. spielen die schwarzen eher Fußball, während die Coloureds zu Rugby tendieren). Über hundertfünfzig Jahre (denn schon von der niederländischen Kolonialmacht, den Buren wurden 1857 dementsprechende Regelungen verabschiedet) pikmentokratischer Staat gehen nicht einfach vorbei, ohne, dass Relikte übrigbleiben. Die Bezeichnungen Black, White etc. werden dementsprechend völlig vorbehaltlos verwendet. Auch die jetzige Korruption, so sehen das zumindest einige, ist eine Folge der Apartheid, da Schwarze, ohne Berücksichtigung der Eignung, in hochrangige Positionen gehievt wurden.
Aufgrund der Vielzahl an verschiedenen Ethnien, gibt es in Südafrika auch 11 Amtssprachen, wobei in Kapstadt Englisch, Afrikaans und isiXhosa (das X wird mit einem Zungenschnalzen ausgesprochen) am gängigsten sind. Allerdings wird Englisch als lingua franca zur alltäglichen Verständigung sehr rege gebraucht.
Ich lebe in Retreat, einem Bezirk der Coloured community, dessen Charakter von gänzlich provisorischer Natur ist; es gibt viele kleine Shops und an jeder Avenue mindestens eine Kirche oder Moschee.
Etwas, was einem in diesem Distrikt und nicht nur in diesem, sondern auch in vielen anderen direkt ins Auge sticht sind neben den streunenden Hunden die vielen Zäune, die die Privatgrundstücke umranden. Stacheldrahtzäune, Betonmauern mit Glassplittern, Mauern mit Überhang, elektrische Zäune, Metallzäune mit Spitzen undsoweiter…
Den somit buchstäblichen Wink mit dem Zaunpfahl, dass es sicherere Plätze gibt, untermauerte unser Gastvater noch mit vielen Ratschlägen, wie wir uns in brenzligen Situationen zu verhalten hätten. Unter anderem sollen wir Leute, die etwas von uns wollen und uns dabei zu nahe kommen zur Abschreckung schlagen. Bei seinen Erklärungen sagte er außerdem den schönen Satz: „If even the president is a thief, what do you expect of the normal people?“ Nichtsdestotrotz wurden wir beide schon überfallen, glücklicherweise erfolglos. „If you weren’t robbed you weren’t in South Africa“ war ein Kommentar dazu.
Aufgrund mangelnder sozialer Absicherung in fast jeder Hinsicht gibt es einige sogenannte informelle Siedlungen, Akkumulationen von Blech- und Holzhütten, ohne fließend Wasser, Elektrizität und Straßen. Zottelige Pferde, die zum Wagentransport gebraucht werden, grasen auf vermüllten Wiesen. Es ist also nicht verwunderlich, dass es Unmengen an Bettlern gibt, die vor allem Weiße um Geld fragen und das, mit einer aufdringlichen Beharrlichkeit, die bisweilen auch in Aggression umschlagen kann. Es ist dabei schwierig abzuschätzen, wie viel Hunger und Frustration in dieser Aggression steckt, da man die professionellen von den notgedrungenen Bettlern zwar manchmal, aber natürlich bei weitem nicht immer unterscheiden kann. Die einzige Hoffnung Vieler am gleichnamigen Kap besteht darin, auch morgen noch etwas zu Essen zu haben.
So scheiße es einem in Kapstadt als armer Mensch geht, so geil geht es einem als Reicher. Überhaupt sind die Kontraste scharf und der Unterschied zwischen den Suburbs und den Weißen Gegenden ist schwer mit Worten zu beschreiben. Zum Glück sind nicht alle Kontraste von derart trauriger Gestalt, nur die Dichotomie, der Riss zwischen totaler Armut in manchen Vierteln und atemberaubender Schönheit an anderen Plätzen ist extrem. So hält auch die Natur immense Unterschiede bereit und langweilig wird es in dieser Stadt mit dieser Umgebung sicher nicht so bald.
Es gibt unglaublich schöne Ozeane, an deren Küste sich das Erdenrund tatsächlich wölbt und die türkisgrüne Brandung gegen braune Felsen schlägt oder kleine Lagunen mit kristallklarem Wasser und der weite, alchemistischblaue Himmel lässt der Sonne Platz zum gleißen. Andererseits gibt es die Berge, welche die Stadt umsäumen und immer in einem bestimmten Licht erscheinen.
Es gibt Märkte und Bankenviertel. Es gibt kleine, putzige Pinguine und riesige, majestätische Wale. Es gibt Blumen und Teerwüsten.
Diese Teerwüsten werden von Autos und auch von Sammeltaxis befahren, deren Fahrstil in der Regel äußerst skrupellos ist. Sie hupen, oder jemand lehnt sich aus dem Fenster und ruft, um potentielle neue Fahrgäste auf sich aufmerksam zu machen. Verkehrszeichen werden dabei als eher sekundär erachtet. Bei 15 Plätzen sind 20 Fahrgäste keine Seltenheit; der Teil, der nicht auf den Sitzen Platz findet, bequemt sich dann auf Holzbrettern in den Lücken, auf dem Boden oder steht. Dafür sind die Sammeltaxis extrem günstig und sehr schnell. Ein anderes beliebtes Transportmittel sind die Metrozüge und Busse, die allerdings häufig extrem verspätet sind. Bei allen etwas verwirrend ist, dass die Stationen nirgends angezeigt werden… Vieles ist ähnlich informell geregelt und erst gewöhnungsbedürftig.
Deutschland wird oft als das Land der Ingenieure und Entwickler und natürlich als Fußballnation wahrgenommen. Auch wird mit einer Mischung aus Belustigung und Bewunderung auf den „deutschen Arbeitsethos“ geschaut.
Unsere Gastfamilie ist unheimlich herzlich und hilfsbereit. Beide Gasteltern sind zutiefst gläubig und in der Kirche engagiert. Sie sprechen hauptsächlich Afrikaans und haben uns sofort als Mitglieder aufgenommen. Unsere Gastmutter, Magdalena, war lange Zeit als Gefängniswärterin angestellt, während unser Gastvater, Aubrey, in der Armee als Computertechniker beschäftigt war. Wegen eines Rückenleidens musste Magdalena viele Jahre pausieren, Aubrey arbeitete weiter. Nun ist Aubrey aufgrund eines Schlaganfalls arbeitsunfähig aber Magdalena arbeitet wieder. Sie sind ein eingespieltes Team und necken sich gelegentlich richtiggehend. So sagte Aubrey am Abendbrottisch und in Anwesenheit seiner Frau zu uns: „you know that song, that they play in the church at weddings: dadadadaa (summt die Hochzeitshymne)? It’s a death march!” Ihr kleiner 2 ½ jähriger Enkel, Seth, ist ein Energiebündel, mit dem man den ganzen Tag spielen und herumrennen, sich verstecken und Musik machen kann und meistens auch muss.
Beide lachen und schimpfen viel, Aubrey laut, Magdalena leise und sind in unserer Gegenwart meistens fröhlich. Reich sind sie nicht, aber sie kommen zurecht. Die Währung, der Rand, ist im Vergleich zum Euro wenig wert, jedoch ist das Einkommen der Meisten auch so gering, dass die Anzahl der Scheine doch einen ungefähren Eindruck des Gegenwerts des Geldes macht.
Einige Szenen, die illustrieren, dass Teile der Gesellschaft noch sehr patriarchal und atavistisch sind habe ich auch schon erlebt. Eine davon ereignete sich wie folgt: Ich wartete an der Tankstelle am Bankautomaten, während vor mit zwei Damen ihr Geld abhoben. Die eine war eher Adipös, während die andere sehr schlank war. Ein Tankstellenwärter meinte zu mir daraufhin: „you have to try that too. I have one for the summer and one for the winter. In the winter it is so cold, then I need this nice fat bags and in the summer I want something skinny to (anzügliche Geste).” Danach begrabschte er beide ausgiebig. Den Beiden schien das nicht im Geringsten etwas auszumachen.
Sofern ich das derzeit beurteilen kann prägt auch ein anderer Familien- und Freundschaftsbegriff das alltägliche Leben, zumindest in meiner Gastfamilie. Ich wurde schon vielen Verwandten und Freunden vorgestellt. Jedoch wurde der Gestus dieser Begegnungen meinem Empfinden nach nicht immer der Art der Beziehung gerecht. Vielleicht ist das eine Armut, eine Armut an (wenn auch manchmal oberflächlicher) Herzlichkeit, die nicht hier, aber dafür in westeuropäischen Ländern anzutreffen ist.
Zwar gilt Südafrika als das westlichste der afrikanischen Länder, jedoch ist es ein Land, in dem die Lebensweise trotz einiger Gemeinsamkeiten unbestreitbar anders ist, bzw. in dem die westliche Lebensweise gewissen Modifikationen unterliegt. So geht es de facto weniger bürokratisch zu, was wiederum Vor- und Nachteile haben kann.
Fälschlicherweise wird der Kontinent Afrika oft homogenisiert, was absolut nicht möglich ist. Man kann allerdings konstatieren, dass Deutschland und Südafrika nicht nur eine geographische, sondern auch eine geistige Distanz trennt.